Asyl: In einem Dorf in Thüringen kommen 600 Migranten auf 400 Einwohner (2024)

Im thüringischen Eckolstädt leben Anwohner und Migranten in getrennten Welten. Man grüsst sich kaum, man spricht nicht miteinander. Das Misstrauen wächst. Ein Ortsbesuch.

Nathan Giwerzew (Text und Bilder), Eckolstädt

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Asyl: In einem Dorf in Thüringen kommen 600 Migranten auf 400 Einwohner (1)

Schon am Ortseingang von Eckolstädt wird klar: In diesem ostthüringischen Dorf leben die Menschen in getrennten Welten. Links der Landstrasse, talwärts, leben die 400 Einwohner des Ortskerns. Es ist eine Welt aus Fachwerkhäusern, einer verrammelten Gaststätte und sorgsam gepflegten Vorgärten. Rechts des Weges, in der Darnstedter Strasse, stehen auf einer Anhöhe zwei hell gestrichene fünfstöckige Plattenbauten. In den ehemaligen Offizierswohnungen der Nationalen Volksarmee der DDR leben rund 600 Menschen – Flüchtlinge aus der Ukraine, Asylbewerber aus mehreren Ländern und etwa ein Dutzend einheimische Sozialhilfeempfänger.

Ein deutscher Anwohner des Wohnblocks lässt sich an diesem heissen Sommertag nicht lange zum Gespräch bitten. Er legt sofort los, in eigenartig gedämpftem Tonfall. «Wir sind hier doch nicht zu Gast, das ist unser Land und unsere Heimat», sagt der Mann mit schütterem Haar, Hosenträgern und Jogginghose.

Er hat jetzt auf einer Bank vor dem Haus Platz genommen und spricht über all das, was in den vergangenen Jahrzehnten in der Siedlung passiert ist. «Die Zugewanderten», sagt er, «kriegen hier so viel wie noch nie in ihrem Leben. Für sie gibt es neu renovierte Wohnungen mit allem Drum und Dran. Und wir Deutschen gehen leer aus.»

Er klagt auch über den Lärm, den die Roma-Familien aus der Ukraine in den Ort gebracht hätten. «Niemand hat uns gefragt, ob wir die Ausländer hier haben wollen.» Die etablierten Parteien, da ist er sich sicher, «haben ausgedient». Auf seinem Gesicht deutet sich ein leichtes Grinsen an. Er will nicht, dass die NZZ ihn namentlich zitiert.

Keine Kneipe, keine Polizeiwache, keine Apotheke

Ein paar Schritte weiter ruht sich ein Paar auf dem Balkon aus und raucht Zigaretten. Es fühlt sich ebenfalls von den Zugezogenen gestört. «Die Zündschnur ist so kurz», sagt die Frau mit starkem Thüringer Dialekt. Sie deutet gestisch an, wie kurz. Sehr kurz.

«Ich sage eigentlich immer: Man soll keinen Streit suchen», sagt sie. «Aber dann wache ich nachts auf, gehe auf den Balkon und schreie um Ruhe. Ich will schlafen. Die verstehen nicht, dass es Ruhezeiten gibt.» Der Mann nickt zustimmend.

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Manchmal rufe sie auch die Polizei. «Aber in Eckolstädt gibt es keine Polizeiwache. Die Beamten müssen den Weg aus Apolda auf sich nehmen. Sie können nicht wegen jeder Ruhestörung kommen.» Apolda ist zehn Kilometer entfernt, es ist die nächstgelegene Kreisstadt.

Direkt beim Wohnblock befindet sich ein Kindergarten, ein paar Schritte weiter das Haus der freiwilligen Feuerwehr. Im Gewerbegebiet nebenan stehen einige Werkstätten und eine Catering-Firma. Wie Spargel ragen die Windräder aus den Feldern. Aber einen Supermarkt, eine Apotheke, eine Schule, einen Bäcker, eine Kneipe oder einen Imbiss – all das sucht man hier vergebens.

Das stört auch die zugezogenen Bewohner der Plattenbauten. Ein ukrainischer Rom sagt im Gespräch: «Nicht einmal Kippen kriege ich hier.» Der syrische Asylbewerber Mohammed Ali, der im Dorf freiwillig für 80 Cent die Stunde den Rasen mäht, drückt es diplomatischer aus: «Die Leute hier sind nett, aber der Bus soll bitte öfter kommen.»

Den Ortskern schmücken Denkmäler und eine Kirche

Man muss nur die Landstrasse überqueren, um Eckolstädt von seiner anderen Seite kennenzulernen. Den Ortskern schmücken Fachwerk- und Mehrfamilienhäuser, die der Glockenturm der alten Dorfkirche überragt. Direkt nebenan stehen nach wie vor die Kriegsdenkmäler: eines für den Deutsch-Französischen Krieg zwischen 1870 und 1871, eines für den Ersten Weltkrieg. Gestiftet, wie es auf dem älteren Denkmal heisst, «von der dankbaren Gemeinde Eckolstädt».

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Eckolstädt gedenkt noch heute der Soldaten, die von 1870 bis 1871 im Krieg gegen Frankreich starben.

Doch die einzige Pension des Dorfes ist verwaist. Auf dem vergilbten Schild ist der Schriftzug «Gasthaus Drei Linden» zu sehen, benannt nach den Bäumen, die noch immer dort stehen. Die Fenster sind mit Sperrholz zugenagelt. Die andere Strassenseite zieren ein Teich, eine Tischtennisplatte und eine Bushaltestelle. Eine ältere Dame, die in der Nähe wohnt, öffnet zögerlich. Sie bleibt an der Türschwelle stehen.

«Ich habe nicht viel Zeit», sagt sie, «ich komme gerade vom Kuchenbacken.» Dann holt sie doch zu einer längeren Tirade aus: «Das sind schon mehr Leute von denen hier als von uns. Jetzt geht es ja noch, aber wo soll das hinführen? Dann leben wir hier irgendwann wie im Reservat, und es stehen überall Minarette in der Gegend.»

«Toi, toi, toi, es ist noch ruhig hier», sagt eine Anwohnerin

Es ist eine Wortwahl, die man in verschiedenen Varianten immer wieder im Dorf hört: Jetzt geht es ja noch. «Zum Glück ist hier noch nichts vorgefallen», sagt eine andere Anwohnerin, die nach eigenen Worten abends nicht mehr zum Stadtrand geht, wenn sie die Grüppchen aus der Darnstedter Strasse sieht. Männer getrennt, Frauen und Kinder getrennt.

«Toi, toi, toi, es ist noch ruhig hier», sagt ihre Nachbarin, eine ältere, hagere Dame, die sich über den Lehrermangel und den hohen Ausländeranteil in der nächstgelegenen Grundschule in Wormstedt beklagt. Wenn einige am Abend im Ortskern spazieren, «dann grüsst man sich auch mal», sagt sie. Aber mehr auch nicht. So wächst im Ort das Misstrauen gegenüber den Bewohnern der anderen Seite. Man spricht kaum miteinander. Umso mehr spricht man übereinander.

Im Dorf gibt es viele Gerüchte. Von grossflächigem Sozialhilfebetrug in der Darnstedter Strasse ist die Rede, von Prostitution und von einem dubiosen Vermieter. Es heisst, ein Iraker aus dem Wohnblock belästige junge Frauen aus dem Dorf immer wieder sexuell. Manche meinen, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die Stimmung kippe.

Die NZZ hätte gern mit Dirk Schütze über die Migranten gesprochen, dem sozialdemokratischen Bürgermeister der Landgemeindestadt Bad Sulza. Als Ortsteil der Landgemeinde fällt Eckolstädt in seinen Zuständigkeitsbereich. Beim ersten Anruf stellt die Sekretärin das Gespräch noch durch. Der Bürgermeister bittet darum, am nächsten Tag noch einmal anzurufen, er sei beschäftigt. Beim nächsten Mal heisst es von einem Mitarbeiter, der Bürgermeister habe einen Termin. Beim dritten Mal ist er angeblich auf Dienstreise.

Der Ortsteilbürgermeister wiederum lässt ausrichten, ihm sei untersagt worden, mit der NZZ zu reden. Eine Gesprächsanfrage bei der Pressestelle des Landratsamts in Apolda bleibt unbeantwortet.

Nur wenige sehen es entspannt

Einige Menschen sehen die Situation im Ort gelassener. Einer von ihnen ist der Rentner Wilfried Wolfram. Er kennt Eckolstädt gut, er sass ein Vierteljahrhundert lang im Kreistag. «Glauben Sie nicht alles, was Ihnen die Leute hier erzählen», sagt er vor seinem Haus unweit der Dorfkirche. Wolfram giesst Blumen und kehrt Laub, später nimmt er auf einem Plastikstuhl Platz.

«Manche hier im Ort haben selber nichts geleistet und neiden jetzt den Flüchtlingen alles an, was sie angeblich vom Staat kriegen», sagt der gelernte Maurer. Eckolstädt habe aber viel schlimmere Zeiten erlebt. Zum Beispiel, als die Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien kamen und sich aus dem Nichts etwas aufbauen mussten. Oder als hier die DDR-Führung einige Jahre darauf den Aufstand vom 17.Juni gewaltsam niederschlagen liess und die Sowjets später auch Raketen stationierten. Aber selbst er ist skeptisch, wie die Integration der vielen Zuwanderer hier gelingen soll.

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Im thüringischen Eckolstädt leben Anwohner und Migranten in getrennten Welten. Man grüsst sich kaum, man spricht nicht miteinander. Das Misstrauen wächst. Ein Ortsbesuch.

Und so entspannt wie er sehen es hier nur wenige. Wer durch den Ort läuft und mit den Menschen spricht, spürt vor allem Ohnmacht. Es geht schon mit Wolframs Nachbarn los.

Am Abend trifft er sich mit ihnen und seiner Frau zum Plausch im Vorgarten. Man liest das Amtsblatt, unterhält sich über frühere Zeiten, trinkt Bier aus der Flasche. Lange geht es um den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA). Für Wolfram waren die Sowjets trotz allen Verbrechen Befreier, für seinen Nachbarn Besetzer – wie übrigens alle Siegermächte. Dann kommt er auf den abgelehnten Asylbewerber TarikJ. zu sprechen, einen Intensivtäter aus Marokko, der seit Jahren mit seinen Straftaten die Gegend rund um Apolda terrorisiert.

Thüringens Landesregierung will den Mann schon seit Monaten ausschaffen. Seine Heimat Marokko weigert sich aber, ihm einen gültigen Pass auszustellen. So lange bleibt er vorerst im Landkreis. «Früher gab es mehr Respekt vor Polizisten», sagt der Nachbar, der nicht namentlich genannt werden will. «Niemand tanzte hier dem Staat auf der Nase herum.»

Dass Thüringens SPD-Spitzenkandidat und Innenminister Georg Maier im Wahlkampf verspricht, 1800 neue Polizeibeamte einzustellen, darüber kann der alte Mann nur lachen: «Dafür hatten Maier und seine Partei doch genug Zeit.» In Thüringen waren die Sozialdemokraten seit 2009 durchgängig an unterschiedlichen Regierungskoalitionen beteiligt.

Die Landtagswahl am 1.September könnte der Tag sein, an dem sich die Wut vieler Bürger entlädt. Schon bei der Wahl für das Europaparlament im Juni wurde hier, im Landkreis Weimarer Land, die AfD mit knapp 33 Prozent stärkste Kraft. Jetzt geht ihr Wahlkampf in die Endphase.

Während sich die Rentner miteinander unterhalten, nähert sich von weitem ein stämmiger Mann. Er schaut nachdenklich, trägt die Bauchtasche über die Schulter gebunden, geht langsamen Schrittes durchs Dorf. «Da kommt der Wanderer», sagt Wolfram. Ein Ukrainer aus der Darnstedter Strasse. Auf die Frage, ob sie ihn grüssen, antwortet er: «Nein, den grüssen wir nicht.» Er grüsst sie nicht, sie grüssen ihn nicht. Man lebt aneinander vorbei.

Der «Wanderer» läuft die Strasse zum Wohnblock hoch. Ein paar ukrainische Jugendliche spielen Tischtennis. Der Ball fliegt hin und her, manchmal scherzt einer, manchmal flucht einer, manche sprechen russisch, manche ukrainisch.

«Am Anfang haben uns hier die Syrer angemacht», sagt einer der Jugendlichen. Sein Deutsch ist noch brüchig. «Das hat mit der Zeit aufgehört. Aber es gibt für uns nichts zu tun in Eckolstädt. Wir wollen in der Schule Deutsch lernen und dann weg von hier.»

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